Vom Auftauchen und Verschwinden

Volk und Orchester – wir befinden uns im Zeitalter der organisierten Massen.

Unsere moderne Gesellschaft hat die alte Ordnung des Adels umgestoßen. In den Ständen versammelten sich früher die freien (also großteils adligen) Menschen, um mit den Fürsten und Königen je nach ihren Privilegien über die Politik (die damals noch nicht so genannt wurde oder etwas anderes bedeutete) zu entscheiden. Dabei war der dritte Stand der nicht adligen Bauern und Bürger nur einer der drei. Er konstituierte sich aber im Zuge der bürgerlichen Revolutionen zu etwas völlig Neuem, der Nation. Die sollte künftig alle Menschen eines Landes umfassen, ohne Rang- und Standesunterschiede. Diese erzwungene und neue Gemeinsamkeit drückte sich in der (ebenso konstruierten) Nationalgeschichte aus, auch darin, dass das Volk als Träger dieser Gemeinsamkeit ideologisch überhöht wurde. Volksmärchen, Volkssprüche, Volkslieder wurden eifrig gesammelt und von gebildeten Schichten gelesen und verbreitet, das Tragen von Trachten war nicht mehr Angelegenheit der lokalen Bevölkerung, sondern auch Zeichen nationaler Zugehörigkeit, wenngleich auch vereinheitlichte Moden Sache der Ateliers und Schneider in den Städten wurden, die oft „ländliche“ Trachten erfanden. (Das erklärt auch einen Kaiser Franz Josef oder Erzherzog Johann in der Lederhose.)

Auch die Musik wurde von dieser Entwicklung beeinflusst. War die Musik des einfachen Volkes früher Gegenstand von Parodien und Verspottungen, so entstand schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Musik, die nicht an Hof und Kirche gespielt wurde, sondern an Orten des städtischen Bürgertums, und Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses (und neuer Themen; z. B. die Kaffeekantate Bachs) war. Später – von Haydn und Beethoven bis Bartók und Kodály – war die Volksmusik Grundlage der Komposition. Diese Beziehung wurde innig. Zunächst finden wir den Eingang von volkstümlichen Charakteren in die Tanz- und Unterhaltungsmusik barocker Suiten (allemande, écossaise, etcet.), dann aber schreiben die KomponistInnen von der Volksmusik regelrecht ab und veredeln sie dabei. Der Grundgedanke ist, das natürliche musikalische Empfinden des Volks mit dem Wissen und der Meisterschaft der akademisch gebildeten und profund ausgebildeten KünstlerInnen anzureichern. Dieses Verhältnis entwickelt sich auch in der Gegenrichtung. Tanzmusik, Unterhaltungsmusik, Filmmusik, Popmusik – sie greifen immer wieder die Entwicklungen der Musik der Hochkultur auf. Zwar mag Zwölftonmusik oder Aleatorik nicht immer dem Publikumsgeschmack entsprechen, wenn sie rein im Konzert dargeboten werden. Tauchen sie aber im Kinosaal oder im Werbejingle oder auf der Tanzfläche auf, fällt dies nicht weiter auf.

Die neue Gesellschaftsordnung drückt sich aber auch im Klangkörper der Musik aus. So wie das Volk in der Nation vereinheitlicht wird, so werden die Musiker im Orchester oder im Kammerensemble vereinheitlicht. So wie die Nation, das Volk mehr ist als die Summe der alten Stände, so wird das Orchester größer als die alten Ensembles am Hof mit ihren alten Instrumenten, die im Orchester nicht mehr vernehmbar sind wie etwa Blockflöten oder Bassgamben, die nun zu leise sind. Quartette, Trios und Bläserensembles finden zu einer kodifizierten Form, die Orchester erfahren ihre Zusammenstellung in vorgeschriebenen Besetzungen, die nun nicht mehr solistisch sind. Solokonzerte werden die Regel, Doppel- und Triokonzerte die Ausnahme. Die Solostimmen konzertieren in Kommunikation mit dem Orchester, auch wenn sie bevorzugt werden, damit die Virtuosität der Komposition ebenso strahlen kann wie die der Wiedergabe. Konzerte für mehrere Stimmen, die eigentlich für Solistenensembles geschrieben worden waren (z. B. Bachs Brandenburgische Konzerte, die nicht für Orchester, sondern für sechs verschiedene Ensemblezusammensetzungen komponiert wurden), verschwinden. Dafür tauchen Werke auf, in denen das Orchester selbst der Solist ist – die Symphonien.

Die Symphonien, die noch in der Barockzeit ganz kleine Stücke waren, mit denen ein Musikabend eröffnet wurde (sie wurden auch oft als Ouverture bezeichnet), quasi zum Aufwärmen von Publikum und Musikern für ein, zwei Minuten, entwickelten sich zu großen, erst drei-, dann viersätzigen Stücken, die über eine halbe Stunde und auch schon länger dauern. Die Vierzahl der Sätze war ebenso eine Neuerung, mit der sich die bürgerliche Musik von der ungeraden Satzanzahl der Barockmusik (schnell – langsam – schnell) bewusst unterschied. Nun gab es zwei Ecksätze, als Vorstellung des Themas am Anfang und als neuerliche, aber abschließende Behandlung des Themas am Schluss, und zwei Mittelsätze, die das Thema diskursiv einkreisten. Die Programmmusik betrat die Bühne; das Konzert behielt die Dreizahl der Sätze und ebenso seinen Unterhaltungscharakter mit der Virtuosität (und dem Stargehabe, denken wir an Paganini oder Liszt) der Solodarbietung. Die Ernsthaftigkeit der musikalischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung war aber bei der Symphonie angesiedelt.